Neben 'Epiphyllum oxypetalum', das ich in der letztjährigen "Kaktusblüte" vorstellte, gehört auch Epiphyllum anguliger zu den für den einfachen Liebhaber empfehlenswerten Arten. Von allen botanischen Blattkakteen ist diese Pflanze vielleicht die in Europa am weitesten verbreitete Spezies und in Deutschland auch unter dem volkstümlichen Namen "Sägezahnkaktus" bekannt. Diese Bezeichnung verdankt unser Epiphyllum seinen ungewöhnlich aussehenden Trieben, deren Ränder sägeblattartig bis in die Nähe der Mittelrippe gekerbt sind und diese Pflanze auch in blütenlosem Zustand als recht ansehnlich erscheinen lassen (vgl. Fig.1 und Fig.2).
Trotz dieses auffälligen Merkmals ist es aber für das ungeübte Auge nicht immer ganz leicht, unsere Art eindeutig zu identifizieren, denn unter den epiphytischen Kakteen gibt es noch zwei Arten mit verblüffend ähnlichem Aussehen, die mit Epiphyllum anguliger aber nicht näher verwandt sind. Es sind dies Weberocereus (syn. Eccremocactus, Cryptocereus) imitans (Kimn.& Hutch.) Buxbaum und Selenicereus (syn. Cryptocereus) anthonyanus (Alex.) D.Hunt, die auch völlig andersartige Blüten hervorbringen. Auch Selenicereus (syn. Epiphyllum) chrysocardium (Alex.) Kimnach entwickelt im Prinzip ähnliche Sprosse, doch sind diese viel breiter und tiefer bis unmittelbar zur Mittelrippe hin gelappt, so dass ausgewachsenen Pflanzen ohne Blüten eher für große Farne gehalten werden. In allen diesen Fällen handelt es sich um Beispiele für Parallelentwicklungen bei verschiedenen Gattungen innerhalb einer Pflanzenfamilie, und die Einkerbungen an den Triebrändern dienen wahrscheinlich als Klammerwerkzeuge, so dass diese Arten als Spreizklimmer und im Zusammenwirken mit den mehr oder weniger reichlich erscheinenden Luft- bzw. Haftwurzeln leichter an Bäumen, Sträuchern oder Felspartien (respektive entlang Telegraphenmasten, Gemäuern oder Hausdächern) dem Licht entgegenwachsen können, ohne dabei abzurutschen. Wie
Bild 1 Epiphyllum anguliger mit typisch becherförnmiger Blüte.
schon Epiphyllum oxypetalum gehört auch Epiphyllum anguliger zu den "alten Bekannten" in Europa. Es wurde 1851 von Lemaire als, wie damals üblich, Phyllocactus anguliger beschrieben 1) und erreichte
Fig.1a - 1b Extreme Sprossformne bei Epiphyllum anguliger,
a. Typ E. anguliger, b. Typ E. darrahii (nach Houghton).
zunächst in England schnell größere Popularität durch die Horticultural Society of London, die sich um die Vermehrung und Verbreitung der Neuheit bemühte. In Deutschland war die Pflanze spätestens seit der Neuauflage des Förster'schen "Handbuch der Cacteenkunde" durch Rümpler im Jahr 1886 bekannt, wo sie zum ersten Mal detaillierter vorgestellt wird 2). Ungefähr 50 Jahre später beschrieb Karl Schumann in den Nachträgen (1898 - 1902) seiner "Gesamtbeschreibung der Kakteen" einen "Phyllocactus Darrahii", benannt nach Charles Darrah, der zur damaligen Zeit eine bedeutende Kakteensammlung in Manchester unterhielt. Diese Pflanze unterscheidet sich von unserem Sägezahnkaktus eigentlich nur durch ihre Sprosse, sieht man einmal von einigen trivialen Unterschieden bei den Blüten ab. Jene sind insgesamt etwas dünner und tiefer in Richtung Mittelnerv eingekerbt, wobei die Sprossabschnitte zwischen den Einkerbungen außen abgerundet sind und nicht sägezahnartig spitz auslaufen (vgl. Fig.1b). Dieses Merkmal ist aber nach heutiger Auffassung wenig relevant und rechtfertigt noch nicht einmal eine Abtrennung als eigene Varietät, zumal sich herausgestellt hat, dass an ein und derselben Pflanze gelegentlich beide Sprossformen zur Ausbildung kommen können. Epiphyllum darrahii ist somit nur noch als besondere Standortform zu verstehen und wurde folgerichtig in die Synonymik von Epiphyllum anguliger verwiesen.
Dies gilt erst recht für einen weiteren Vertreter aus diesem Formenkreis, der von dem bekannten Kakteensammler und Pflanzenkenner Tom MacDougall in Südmexiko gefunden, aber nie offiziell beschrieben wurde, und dennoch unter dem Namen Epiphyllum gertrudianum hort. einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangte 3). Dieser Blattkaktus soll als Zwischenform Eigenschaften beider oben genannten Epiphyllen in sich vereinen, so dass sich weitere Ausführungen an dieser Stelle erübrigen. Die Heimat aller hier genannten Taxa liegt im Süden Mexikos, hauptsächlich in den Bundesstaaten Oaxaca und
Chiapas, doch ist auch von Vorkommen in Zentralmexiko und sogar in El Salvador berichtet worden, wobei es sich aber vermutlich nicht um deren ursprüngliche Verbreitungsgebiete handelt.
Epiphyllum anguliger ist sehr leicht zu halten. Man kann die Pflanze entweder platzsparend an Stäben aufbinden, oder in Ampeln kultivieren,
was deren natürlichen Bedürfnissen eher entspricht. Sie wächst dann allerdings recht sparrig, blüht dafür aber auch besser und reichlicher. Die im Vergleich zu vielen andern Epiphyllen eher kleinen Blüten erscheinen im Frühsommer und werden um die 15 cm lang und 10 - 12 cm breit. Die äußeren abstehenden, schmalen Blütenblätter sind mehr oder weniger gelb, und die zu einem meist becherförmigen Kelch zusammengeneigten inneren Kronblätter sind rein weiß bis cremfarben (siehe Bild 1). Die duftenden Blumen öffnen sich abends und halten je nach Temperatur auch noch bis zum Mittag oder Abend des folgenden Tages. Im Gegensatz zu fast allen andern Blattkakteen scheint Epiphyllum anguliger selbstfertil zu sein, worauf in der Literatur des öfteren hingewiesen wird. Auch bei mir setzte die Pflanze ohne mein Zutun eine Frucht an, die im Reifestadium gelbgrün gefärbt war und täuschend ähnlich wie Stachelbeeren schmeckte.
Fig.2 Epiphyllum anguliger, hier mit eher trichterförmiger Blüte und typischer Sprossform (nach T. M. Bock).
Der interessante Habitus hat inzwischen auch einige Phyllozüchter auf den Plan gerufen, mit unserer Pflanze ein bisschen zu experimentieren. Der bekannte, 1993 verstorbene Wressey Cocke aus Redondo Beach (nahe Los Angeles) bestäubte Epiphyllum gertrudianum (also Epiphyllum anguliger) mit dem Pollen seiner 'Bonanza Belle' (= 'Lilac Time' x 'Mon Cherie'), einem Phyllokaktus mit großen, prächtig orangefarbenen, außen kirschroten Blüten. Trotzdem unterschieden sich die Sämlinge außer in der Größe und Form der Blüten nur unwesentlich von der Mutterpflanze, so dass man davon ausgehen kann, dass sie durch Reizbestäubung entstanden sind, letztendlich also durch sogenannte "Selbstung", was die obige Annahme, dass Epiphyllum anguliger möglicherweise selbstfertil ist, stützt. Cocke hat zwei Pflanzen ausgelesen und benamt, vor allem, weil sie sich durch gesteigerte Blühfreudigkeit auszeichneten: 'El Tecolote' (siehe Bild 2) mit größeren und 'Little Cutie Pie' mit kleineren Blüten als die Mutterpflanze. Epiphyllum anguliger kann genauso wie Epiphyllum oxypetalum kultiviert werden (vgl. hierzu meine Ausführungen in "Kaktusblüte", April 1995), ist jedoch insgesamt robuster und verträgt im Winter notfalls auch Temperaturen von 10° C., kurzfristig auch darunter, ohne nachteilige Folgen. Bei 2-3 Grad mehr Wärme in dieser Jahreszeit fühlt sich die Pflanze allerdings wohler.
Bild 2 ´El Tecolote´.
Fußnoten:
1) Die einst sehr populäre Gattungsbezeichnung Phyllocactus Link
1831 musste später aus Prioritätsgründen zugunsten von Epiphyllum
Haworth 1812 fallen gelassen werden. Heute wird der Begriff
"Phyllokaktus/Phyllokakteen" aber immer noch vielfach angewendet
bei den Blattkaktushybriden, die den botanischen Epiphyllen im
Habitus oft ähnlich sind, die jedoch aus vielfältigen Kreuzungen
unter den Gattungen Heliocereus, Nopalxochia, Selenicereus,
Aporocactus, Disocactus u.a., nicht zuletzt auch Epiphyllum
hervorgegangen sind. Der gleichfalls noch sehr gebräuchliche Name
"Epiphyllum-Hybriden" für diese Pflanzen sollte aber tunlichst
vermieden werden, weil die Gattung Epiphyllum an der Entstehung
der schätzungsweise zehn- bis zwölftausend bis dato bekannt
gewordenen Hybriden nur zu einem relativ geringen Teil beteiligt
ist.
2) Die auf Seite 840 gemachten Angaben über die Dauer der Blüten
("etwa 8 Tage") entsprechen jedoch nicht den Tatsachen.
3) Diese Pflanze wollte Alexander anfangs zu Ehren von Sherman E.
Beahm, dem ehemaligen Besitzer einer großen Phyllo-Gärtnerei, als
"Epiphyllum beamii" beschreiben. Warum dies nicht geschah, ist
mir nicht bekannt; vielleicht sah man später ein, dass die
Unterschiede zu E. anguliger und dem damals noch nicht in Frage
gestellten E. darrahii doch zu geringfügig waren. Epiphyllum
gertrudianum ist nach der Frau von Sherman E. Beahm, Gertrude
Beahm, benannt. Man findet die Pflanze auch oft als "Epiphyllum
gertrudianus", was aber nicht den Regeln der lateinischen
Grammatik entspricht. Aus demselben Grund müsste meiner Meinung
nach der Artname eigentlich auch "gertrudeanum" lauten, aber da
die Pflanze sowieso nie offiziell beschrieben wurde, ist es
müßig, sich Gedanken über die korrekte Namensgebung zu machen.
Der Artikel 'Epiphyllum anguliger (Lemaire) G. Don.', wurde 1996 in der 'Kaktusblüte' der Wiesbadener Kakteenfreunde veröffentlicht. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion der Kaktusblüte.